LUTHER
das lied wollte meiner stimme zu hoch werden


Ein Wolf und ein Lämmlein kamen ohngefähr beide an einen Bach zu trinken. Der Wolf trank oben am Bach, das Lämlein aber fern unten. Da der Wolf des Lämmleins gewahr ward, lief er zu ihm und sprach:
"Warum trübest Du mir das Wasser, daß ich nicht trinken kann?"
Das Lämmlein antwortet: "Wie kann ich dir's Wasser trüben, trinkest du doch uber mir und möchtest es mir wohl trüben?"
Der Wolf sprach: "Wie? Fluchest du mir noch dazu?"
Das Lämmlein antwortete: "Ich fluche dir nicht."
Der Wolf sprach: "Ja, dein Vater tät mir vor sechs Monden auch ein solchs. Du willt dich vätern."
Das Lämmlein antwortet: "Bin ich doch dazumal nicht geborn gewest, wie soll ich meins Vaters entgelten?"
Der Wolf sprach: "So hast Du mir aber mein Wiesen und Äcker abgenaget und verderbet."
Das Lämmlein antwortet: "Wie ist das müglich, hab ich doch noch keine Zähne!" -
"Ei", sparch der Wolf, "und wenn du gleich viel ausreden und schwätzen kannst, will ich dennoch heint nicht ungefressen bleiben." Und würget also das unschüldige Lämmlin und fraß es.

M. Luther, vom wolf und lämmlein
 

Natürlich können wir sagen: Seht diesen Mann! Er war zum Meditieren begabt, doch völlig ungeeignet zum Handeln! Während er noch den Himmel zu erstürmen meinte, reichten ein paar Maulwurfshügel, um ihn zum Stolpern zu bringen. Eine persönliche Unfähigkeit, wie es scheint, ein bloßes Mißgeschick. Doch sollte Luther in Deutschland etwa der einzige unter den wirklich großen Männern sein, der seine Revolution nicht zu Ende führen konnte?
Eine typisch französische Formulierung übrigens, die uns ganz selbstverständlich aus der Feder fließt. Was bedeutet sie für einen Deutschen, wenn es zutrifft, daß Revolutionen in Deutschland stets persönliche bleiben und daß ihre Urheber sich als heroische Genies nie darum kümmern, die Erde mit platzraubenden, leblosen Gebäuden vollzustellen; dafür gibt es Maurer, Bauunternehmer, auch Architekturberater, die im Dienst und unter Aufsicht von Pastoren und Fürstenstehen; und das ist auch gut so, denn freie Geiste haben mit solchen Arbeiten nichts zu schaffen. Worauf es ihnen allein ankommt und was sie völlig ausfüllt, ist, sich ihre eigene revolutionäre Wahrheit zu erobern, zu erfassen und anzueignen; auf den Trümmern der alten, von der zerstörerischen Gewalt ihrer Aufrichtigkeit aufgewühlten Zustände eine persönliche und autonome Ordnung zu errichten; und während sich die Masse mit einfachen Arbeiten abmüht, mit Hilfe des Denkens in die direkte Verbindung zum Göttlichen zu treten.
Der Rest? Luther war keineswegs der einzige, der ihn verachtete. Wozu das alles? - sagen die einen wie die anderen. Wer vom berauschenden Wein des Absoluten getrunken hat, was kümmern den noch eure kleinen irdischen Weinernten? ...
Damit kommen wir zum anderen Aspekt der Dinge. Der Boden, für den sich den heroischen Genies nicht interessieren und auf dem sie nur ihren Köreper abstellen, während ihr Geist in höheren Regionen schwebt - dieser Boden wird von Hirten mit Wachhunden besetzt. Sie erteilen Befehle, geben Anweisungen, regieren. Sie bestimmen das Ziel, ihr Ziel. Die Massen marschieren nur einfach fügsam und im vorgeschriebenen RHythmus. Widerstandslos  und mühelos beugen sie sich der auferlegten Disziplin.  Sie fügen sich den Strukturen einer sichtbaren Kirche, die eng mit dem Staat verbunden ist.  Dieser unterstützt jene mit ganzer Kraft. Die Kirche widerum läßt den Staat an ihrem göttlichen Status einer unmittelbatr von Gott gewollten und begründeten Institution teilhaben, der man keinen Widerstand leisten kann und darf. Und das alles ist Luther. Das alles ist auch Deutschland, von Luther bis heute. Wer aber kann in diesem Komplex von Tatsachen, Ideen und Gefühlen im einzelnen unterscheiden, was Deutschland von Luther oder umgekehrt Luther von Deutschland übernommen hat? ...
Wir wollen über Luther kein Urteil fällen. Welcher Luther sollte das auch sein, und nach welchen Maßstäben sollten wir ihn beurteilen?  Nach seinen eigenen? Nach unseren? Oder nach den Maßstäben des gegenwärtigen Deutschland? Wir haben lediglich versucht, bis an die  unmittelbaren Grenzen einer Gegenwart, die wir kaum mit der nötigen Gelassenheit einschätzen können, die kurvenreiche und sich schließlich gabelnde Bahn eines posthumen Schicksals nachzuzeichnen.

Lucien Febvre, 1927

Magdeburg im Lutter-Jahr. Und doch ist Lutter hier nicht Zweck, sondern nur Anlaß, sein Leben nachzuzeichnen. Es ist auch nicht wirklich nur sein Leben, sondern enthält parabelhaft viele Anklänge an die eigene und die DDR-(bzw. West)-Vergangenheit. Theater auf historischen Grund, mit historischem Bezug, aber realem Kontext.

Wolf Bunge hat hier mit viel theatralem Gespür einen Lutter einfliegen lassen, dessen Saat sich nicht, wie die Figur im unendlichen Laserstrahl verliert.

Sommertheater in einer Kirchenruine, mit lokalem und Zeitbezug, das dennoch nicht im Nischenklischee verharrt.

Darsteller, die dem Wetter und allen Widrigkeiten trotzen. Solch ein Theater sucht seinesgleichen.

Regie: Wolf Bunge, Prod.Leitung: Jörg Richter, Bühnenbild&Kostüme: Toto, musikalische Leitung: Tabea  Wollner, Ton: A. Lartz, Tontechnik: CREW MD, W.Hesse, Licht: Guido Schnoor, Lichttechnik Rockservice BS, Lasertechnik Tangram mit Texten von Lutter, Heiner Müller und historischen Dokumenten.